Geschichte der Stitzenburg-Apotheke seit 1901


  

 

1901

 

Am 1. Oktober 1901 eröffnet der Stuttgarter Apotheker Albert Wünsch in der Hohenheimer Straße 38 seine eigene Apotheke. Er scheint ein großer Ästhet gewesen zu sein, denn die Einrichtung, die er von einem angesehenen Architekten im gerade aufkommenden Jugendstil entwerfen läßt, ist genauso geschmackvoll wie teuer.
In Stuttgart gab es zu diesem Zeitpunkt übrigens gerade mal 17 weitere Apotheken – heute sind es an die 70, und wenn man die Vororte mitrechnet, sogar 170, also fast so viele, wie damals im ganzen Königreich Württemberg zusammen.
 

 

Stuttgarter Neues Tagblatt v. 1.10.1901


 

Seine pharmazeutische Geschäftstätigkeit kündigt
Albert Wünsch mit folgender Reklameschrift an:

 


Ew. Hochwohlgeboren
beehre ich mich ganz ergebenst anzuzeigen, dass ich die
mir von der Kgl. Regierung concessionierte neue

Apotheke
Hohenheimerstrasse 38
Ecke Fischer- und Hohenheimerstrasse
im Laufe des Sommers eingerichtet und nun unter dem Namen

"Stitzenburg – Apotheke"
eröffnet habe.

Die Einrichtung entspricht dem neuesten Stande der
pharmaceutischen Technik und Wissenschaft. Hierdurch und
durch die während einer langjährigen Praxis in hiesiger Stadt,
zuletzt als Verwalter der Hofrat Dr. Sigel’schen Apotheke,
gewonnenen Erfahrungen bin ich in der Lage, allen Anforderungen
auf pharmaceutischem Gebiete entsprechen zu können und sichere
coulanteste Bedienung zu.

Zu einer Besichtigung der Offizin lade ich ganz
ergebenst ein und empfehle mich

Hochachtungsvoll
Albert Wünsch
Apotheker

Stuttgart, im Oktober 1901

 

 

Die Namenswahl bezieht sich auf die ehemalige "Stitzenburg", ein seinerzeit auf Höhe der heutigen Stitzenburgstraße schön und aussichtsreich gelegenes Landhaus, das von seinem Besitzer, dem Uhrmachermeister C.F.Stitz, zu einer Ausflugsgaststätte umgebaut worden war (siehe auch Kapitel "Stitzenburg").

                    

Als Sortiment preist Apotheker Wünsch insbesondere an:

Allopathie und Homöopathie
Chem. und pharmaceut. Laboratorium

Alle Spezialitäten.
Verbandartikel und chirurg. Hilfsmittel.
Medicinische Weine.
Südweine. – Landweine.
Champagner. – Spirituosen.
Diätetische Präparate.

 

Die Auswahl an Weinen, Champagner und gar Spirituosen in einer Apotheke mag auf den ersten Blick verwundern, aber man verkaufte ja lange auch Benzin an die ersten Automobilisten.
Vieles war damals eben noch anders als heute (wo mittlerweile auch viele Tankstellen mit Vitaminen handeln), nicht zuletzt auf dem eigenen, dem pharmazeutischen Gebiet. Fast alle Arzneimittel wurden noch in der Apotheke selbst hergestellt: man drehte Pillen, preßte Tabletten, goß Zäpfchen, rührte Salben an, bereitete Pflaster und Tinkturen, mischte Tees.

                        



 

 

 

 

 

 

 

Der langsame Wandel von solchen Einzelrezepturen hin zu industriell gefertigten, standardisierten Medikamenten, wie wir sie heute kennen, vollzog sich erst ab etwa Mitte der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Dennoch verfügt jede Apotheke auch heute noch über ein bestens ausgestattetes Labor, in dem alle spezielleren Verordnungen unter Reinraumbedingungen zubereitet werden können.
Überdies werden dort alle Rohstoffe, Salbengrundlagen, Drogen und Tees, aber auch einzelne Fertigarzneimittel, regelmäßig einem aufwendigen Prüfprotokoll unterzogen.

 


Jugendstil in voller Blüte : Arzneiflaschen-Etikett von 1901

1912 Apotheker Albert Wünsch, der selbst keine Nachkommen hat, verkauft die Apotheke schon relativ bald an den Apotheker Gustav Hahn. Für die nächsten 66 Jahre, die längste Zeitspanne bisher, bleibt die Stitzenburg-Apotheke im Besitz dieser einen Familie. Zunächst leitet Gustav Hahn die Apotheke ein Vierteljahrhundert lang allein.  
1937
 
Altershalber verpachtet er die Apotheke nun an seinen Sohn, den Apotheker Oskar Gustav Hahn.  
1941
 
Nach dem Tod des Vaters erbt Oskar Gustav Hahn die Apotheke und führt sie über 34 Jahre durch zum Teil schwierige Zeiten (das Haus wird im II. Weltkrieg von einer Splitterbombe getroffen, die alle Schaufenster und die ehemals kunstvolle Eingangstür zerstört) bis ins Jahr 1971.  
1971
 
Oskar Gustav Hahn, der in der eigenen Familie keinen Nachfolger mehr findet, verpachtet am 1. Juli 1971 die Apotheke für zunächst fünf Jahre an die Apothekerin Isolde Fröhlich.  
1976
 
Am 1. Juli 1976 verpachtet Herr Hahn ein zweites Mal. Diesmal an Frau Apothekerin Elisabeth Luithle, die die Apotheke am 1. April 1978 schließlich auch erwirbt. Frau Luithle betreibt die Stitzenburg-Apotheke auf unverwechselbare, erfrischend herzliche Art und zeigt immer ein feines Gespür für deren historische Qualitäten (sie legt zum Beispiel den schönen Terrazzo-Boden wieder frei, der lange Zeit unter Linoleum verborgen war). Von Beginn an widersetzt sie sich zudem standhaft jedem Ansinnen, "den alten Plunder" – gemeint ist die solide, eichene Jugendstil-Einrichtung – irgendetwas "Neuzeitlichem" wie etwa kunststoffbeschichteten Spanplatten zu opfern. Vielmehr ruft sie 1980 das Amt für Denkmalschutz auf den Plan, dessen Gutachter derart beeindruckt sind, daß sie sich auf der Stelle dazu entschließen, das ganze Ensemble in den Rang eines Kulturdenkmals zu erheben.  
1996
 
Am 1. Juli 1996, auf den Tag genau zwanzig Jahre später, zieht sich Frau Luithle in den Ruhestand zurück und verkauft die Apotheke an die Apothekerin Sabine Kettemann, die sie behutsam in ein neues Jahrhundert führt ...  


2001

 

Im Jahr unseres Jubiläums sei allen bisherigen Apothekenleitern und Angestellten gedankt, die die Stitzenburg-Apotheke über den langen Zeitraum von 100 Jahren engagiert zu dem weiterentwickelt und erhalten haben, was sie heute noch immer ist : eine leistungsfähige, lebendige Quartierapotheke, ein Kleinod unter den wenigen Stuttgart noch verbliebenen historischen Geschäftslokalen und, nicht zuletzt, eines der sehr seltenen Beispiele für eine Jugendstil-Apotheke.

 


         
            Juli 1996: Schaufenster – Vorhang auf zum nächsten Akt ...
 

     Jugendstil-Offizin  

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